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ich den Bahnsteig betrat, war der bei dem ich Erste Hilfe leisten vier Minuten noch bis zur Ab-
Zug schon angefahren. müsste? Dass meine Tasche unbe- fahrt. Zwei Minuten hatte ich
Ich hatte es geschafft! Ich ging merkt aus dem Gepäckkorb fallen eingeplant fürs Fahrradabstellen,
zurück, um mir die Fahrkarte für würde und ich umkehren müsste. für den Fahrkartenkauf und für
den nächsten Zug zu kaufen. Ja, die Fahrradkette könnte noch den Weg zum Bahnsteig. Alles
Dieser Teil meiner Strategie war herausspringen. Und am Fahr- klappte. Ich schien so entspannt
viel anstrengender gewesen als kartenautomaten könnten Leute wie noch nie. Locker stieg ich die
der, zwanzig Minuten zu früh zu stehen, die ihn nicht zu bedienen Treppe hoch.
kommen. Ich spürte, die Zeitkette verstünden. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir
hatte vielleicht Risse bekommen, O.K., all das war, seit ich diese Stre- den Zeiger, der gerade auf zwei
aber abgefallen war sie noch lange cke fahre, noch nie passiert. Und Minuten vor Abfahrt ruckte. Jetzt
nicht. sollte es passieren, dazu entschloss die Tasche abstellen. Ich hörte den
Was bedeutet nun eigentlich ich mich, dann würde dieses Ex- Zug einfahren. Meine Tasche? Ich
pünktlich zu sein? periment einfach nicht zählen. Ich hatte sie im Fahrradkorb verges-
Das könne sie mir nicht erklären, würde es im Nachhinein für un- sen.
sagte meine Frau am Abend, als gültig erklären und wiederholen! Nun passierte etwas, für mich
ich ihr von meiner Selbstbefrei- Ich atmete auf, allerdings nur kurz. von gleicher Unvergesslichkeit
ungsaktion erzählte. Pünktlich sei Denn jetzt, ich war immer noch und nicht zu erklären wie meine
man, wenn man pünktlich sei, beim Planen, überfiel mich eine Pünktlichkeit, immer 10 Minu-
also den Zug nicht verpasst und andere Angst. Der Zug könnte zu ten zu früh anzukommen. Ich
sich, das sei wichtig, darüber kei- früh losfahren. rannte los. Die Treppe runter, hi-
ne großen Gedanken macht, also Unvorstellbar, ich käme zwei Mi- nüber, hoch, die Tasche, runter,
deswegen nicht angespannt ist. nuten zu früh auf den Bahnsteig, hinüber, hoch. Der Zug stand
Ich beschloss als nächstes Ziel für also pünktlich, ganz entspannt. immer noch da. Tür auf, mit dem
mich, zwei Minuten vor Abfahrt Da steht er schon, mein Zug, und Pfeifen des Schaffners hinein.
als Pünktlichkeit zu definieren plötzlich fährt er los, ohne mich. Was hatte ich bisher gelernt?
und zu erreichen. Dann hätte ich Als jemand, der ja immer zu früh Pünktlich kann ich sein, egal
noch gut Zeit, meine Aktentasche da ist, muss ich natürlich zugeben, wann! Auch pünktlich unpünkt-
abzustellen, den anderen Warten- dass ich noch nie erlebt hatte, dass lich.
den kurz grüßend zuzunicken. der Zug zu früh losgefahren ist. Und: Ich beherrsche die Zeit! Das
Zwei Minuten, das ist die wahre Überhaupt zu früh, das gibt es hatte ich mir bewiesen. Mein Le-
Pünktlichkeit. doch gar nicht, oder kaum. Ich ben lang.
Jetzt musste ich nur noch zurück- musste lachen, wir Deutschen Welche Kette hielt mich eigent-
rechnen, wann ich dafür los müss- schalten pünktlich kurz vor 20 lich? Die Zeitkette war es nicht
te, den Wecker wieder stellen, Uhr den Fernseher an und die Ta- gewesen.
zur Selbstkontrolle, dann konnte geschau hat schon begonnen. Zu
nichts mehr schief gehen. früh, ja, da fielen mir schon Bei-
Aber was wäre, wenn gerade mor- spiele ein, alleine, zu zweit, indivi-
gen mein Reifen plötzlich platt duelle, aber die Zugabfahrt nein.
würde, ein Reißnagel am Weg Nie.
läge, ein Dorn von den wilden So fuhr ich los. Als ich endlich
Rosenbüschen am Wegrand? den Zeiger der Bahnhofsuhr
Und was könnte sonst noch da- erspähen konnte, rückte er
zwischen kommen? Ein Unfall, gerade eine Minute weiter,
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